html> Nikos Kazantzakis

Heinz Schmitz

Der grosse Weltenwanderer
Nikos Kazantzakis’ „Odyssee“

Ein Odysseus, der brav und bieder zuhause sitzt, lässt sich schwer denken. Schon in der Homerischen Odyssee wird angedeutet, der Held werde auch nach seiner Heimkehr nochmals ausziehen (11,121ff., 23,268ff.). In Dantes „Divina Comedia“ bricht er dann tatsächlich nochmals auf, der Sonne nach, zur unbewohnten Welt, bis sein Schiff beim andern Pol zerschellt (Inf. 26,91ff.9). Dies hat der Kreter Nikos Kazantzakis (1883—1957) in seine 1938 erschienene «Odyssee» aufgenommen, in das Werk, das ihm mehr bedeutete als alle anderen und das dennoch erst 1973 aus der Feder von Gustav A. Conradi eine deutsche Übersetzung erhalten hat (erschienen im Verlag Kurt Desch). Odysseus ist es satt, in Heimatruh zu faulen, er rüstet wieder ein Schiff aus und nimmt einige Gefährten mit: Kentaur den „Dickhintrigen“, eine Gestalt von praller Diesseitigkeit, ausschweifend im Genuss und voller Mitleid mit den Menschen; Orpheus den spinnedürren, zappeligen Sänger, der schliesslich dem Wahnsinn verfallen wird; Kieselstein, den jungen Adligen, der im Streit um eine Frau seinen Bruder erschlagen hat, dazu noch einige andere, später wird noch der kühne Petrakas aus den Bergen zu ihnen stossen, der „Adlerjunge“, der in die Horste der Adler, welche die Herden überfielen, Feuer geworfen hat.

Odysseus fährt nach Sparta, raubt dort Helena und zieht weiter zur Herrlichkeit Kretas. Er sieht, dass diese Welt bei an ihrem Reichtum und all ihrer Sinnenfreude dem Untergang geweiht ist, er zerstört sie und fährt weiter nach Ägypten, von dort weiter nach Süden bis zu den Quellen des Nils. Dort gründet er eine neue Stadt für freie Menschen, die bald durch einen Vulkanausbruch zerstört wird. Einsam und ohne Gefährten zieht er weiter, bis er schliesslich am Südpol stirbt. All dies sieht zunächst aus wie die Fahrt eines Helden den es stets zu neuen Ufern zieht, doch wird dies im weiteren Fortgang des Gedichts immer mehr vertieft, und mehrmals taucht die Frage auf: Woher sind wir, wozu das Leben, wohin gehen wir?— War nicht schon Gilgamesch, Urvater aller epischen Helden, ausgezogen, um „nach Tod und Leben“ zu fragen?


Epik
Ist ein Heldenepos im 20. Jahrhundert überhaupt noch möglich? Kazantzakis fragt nicht danach. Die Worte bedrängen ihn, und wenn sie beinah mich erstickt, und riesengross der Schmerz anschwillt, so spring ich auf und brauche Raum, viel Raum, für meinen Tanz am Strande (Prolog, 44f.). — In „Rechenschaft vor El Greco“ (welch bezeichnender Titel!) berichtet er, wie ihn vor Beginn der Arbeit an der „Odyssee“ die Frage nach Gott und dem Sinn des Lebens bedrängten. „Sorbas (das heisst Georgios Sorbas, das Urbild des späteren Romanhelden) wusste es, doch er konnte es nicht ausdrücken, er tanzte es. Könnte ich diesen Tanz in Worte verwandeln!“ Freilich: dieser Tanz der Worte in 33 333 Versen erfordert einen Leser, der die Gabe des geduldigen Zuhörens besitzt, der sich willig vom Strom dieser Sprache treiben lässt. Wer dieses Buch wie einen Bestseller eilig verschlingen will um auch darüber reden zu können, der wird es nach wenigen Seiten enttäuscht aus der Hand legen. Der Gewinn der epischen Form ist jedoch beträchtlich: das Pathos wird nicht gedämpft, sondern in konkrete Bildhaftigkeit umgesetzt, der Dichter lässt seinen Leser eine Welt von unermesslichem Reichtum an Schönheit und Hässlichkeit, Liebe und Kampf schauen und erleben. Kazantzakis denkt in Bildern, und wenn er etwa den «schwarzen Reiter Krieg» in apokalyptischen Farben schildert oder wenn Odysseus und der „Nachbar Tod“ sich wie zwei alte Bekannte auf einem Bänklein unterhalten, dann ist die Bildhaftigkeit so stark. dass herkömmliche Begriffe wie Symbolik oder Personifikation völlig unadäquat werden, vergleichbar höchstens berühmten epischen Vorgängern wie etwa der Schilderung r der Fama im vierten Buch von Vergils Aeneis.


Homer
Dass der Einfluss Homers (den Kazantzakis später zusammen mit einem hervorragenden griechischen Homer-Philologen (J.Th. Kakridis) übersetzt hat auf diese Dichtung beträchtlich ist, das versteht sich von selbst. Die direkten Anklänge (wie auch zum Beispiel Gleichnisse) sind am Anfang stärker und treten immer mehr zurück, je weiter sich der Schauplatz der Handlung von Griechenland entfernt. Das «homerische Schauen» beherrscht freilich das ganze Gedicht. Es könnte nur durch ein längeres Zitat deutlich gemacht werden. Stellvertretend dafür und zugleich als Beleg für die Lebendigkeit des mythischen Weltbildes mag das Folgende stehen:

Zur Mutter kehrte Helios heim, und seine Mutter zitterte.
Sie stürzt zum Unterbau des Himmels, facht die roten Oefen an,
und vierzig Laibe Brot schiebt sie, den Sohn zu stärken, rasch hinein.
Und die Gefährten sehn den Gott versinken, und sie zünden rasch
ein Feuer an am Fuss der Klip pen, stecken an den Spiess ein Zicklein,
das, zwischen Felsen eingeklemmt, sie mit der Schling herausgezogen.
(5,1ff.)

Aus der Homerischen Technik, den Helden „schmückende Beiwörter“ zu geben („der schnellfüssige Achilles“, „der göttliche Dulder Odysseus“), entwickelte Kazantzakis eine Vielzahl von Namen, die er seinem Helden gibt. Um nur eine . kleine Auswahl zu geben: der Mann der sieben Seelen, der Vielwillige, Einsame, Gottesmörder, Gipfelsinnige. Herzverführer, Unersättliche, Athlet, Asket, Vielgesichtige, der wilde Weise, grosse Weltenwandrer, Grenzenkämpfer.


Volkspoesie
Letzteres erinnert an Digenis Akritas („Digenis, der Grenzkämpfer“), jenen Sohn eines arabischen Emirs und der Tochter eines griechischen Generals, welcher zuerst Thema eines byzantinischen Heldenepos und dann unzähliger volkstümlicher Lieder war. Eines dieser Lieder schildert ihn als einen Mann, den kein Haus und keine Höhle fasste, der von Gipfel zu Gipfel über die Berge sprang — Worte, mit denen man auch diesen Odysseus charakterisieren könnte. Und dieser Odysseus ist auch ein „Akritas“, freilich nicht nur auf der Grenze von Orient und Okzident: Ein Mann, der keiner Grenze achtet, ists, der Gott und Mensch vermischt / und alle heilge Ordnung unsrer abgrundnahen Welt zerstört (2.202); einer, der in der Mitte zwischen Erd und Himmel (14,572) hängt.

An die griechische Volkspoesie erinnert auch das jambische Versmass, das Kazantzakis statt des homerischen Hexameters gewählt hat, und wie die neugriechische Volkssprache mit Digenis Akritas etwa im 11. Jahrhundert zum ersten Mal die Basis eines grösseren dichterischen Werks wurde, so erreichte sie in dieser „Odyssee“, wie die Kenner des äusserst schwerverständlichen Originals übereinstimmend versichern, ihren Höhepunkt an Nuancenreichtum.

Antikes
Bezüge zu antiker Literatur und Kunst fliessen in dieses Gedicht ein mit einer Selbstverständlichkeit, die vertrauten Umgang bezeugt. Einige wenige Beispiele mögen zur Illustration genügen. Mit seinem eigenen Blut (nicht wie bei Homer mit dem Blut eines Opfertiers) ruft Odysseus im 14. Gesang die Toten: wenn dabei seine Ahnen erscheinen, ist nur Tantalos (einer, der keine Sättigung findet) namentlich bezeichnet, Herakles (den Weltenwanderer) und Prometheus (den Gottbekämpfer) muss der Leser selbst identifizieren. Die Stadt, die Odysseus dann gründet, trägt deutlich die Züge des Platonischen Idealstaates (drei Stände, Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft), doch sollen die Kinder nur deshalb gemeinsam erzogen werden, damit sie ihre Väter übertreffen, und die Frauengemeinschaft hat allein den Zweck, dass jeder jede lieben kann und „eh die Lust sich mindert“ sie wieder verlasse—eine Polemik, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt! Und wenn Odysseus im 22. Gesang auf seiner letzten Station vor dem Tod strandet und einige Menschen findet, so ist diese Landung deutlich in Parallele gesetzt zur Landung des Homerischen Odysseus auf der Märcheninsel der Phäaken, welche ihn dann nach Ithaka brachten. Die Welt aber, die Odysseus hier vor seiner letzten Reise in den Tod (und das heisst nun auch: vor seiner eigentlichen Heimkehr) findet, ist deutlich eine Gegenwelt zur Welt der Phäaken. War jene üppig, heiter und voll Hoffnung, so ist diese voll Armut, Kalte, Schrecken und Tod.


Schmelztiegel
Auf der langen Reise seines Helden, die immer mehr zu einer Reise ins Eigentliche wird, setzt sich Kazantzakis mit literarischen Figuren (zum Beispiel Don Quijote), dem Buddhismus, dem Christentum — kurz: mit Gott und aller Welt auseinander. Der Boden, auf dem er dabei selbst steht, lässt sich nur andeuten: Nietzsche spielt da eine Rolle, auch Bergson, Darwin, Freud und der Marxismus. Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen darzulegen, welche Rolle diese Geister in Kazantzakis' Leben gespielt haben und wo sich diese Einflüsse zeigen. Es genüge die Feststellung, dass er all dies gleichsam in einen grossen Schmelztiegel wirft und zu einer Einheit verbindet, die ihren Grund nicht in der Vernunft hat, sondern in einer mystischen Kraft, die letztlich aus dem platonisch-byzantinischen Christentum stammt — mag er dieses Christentum in der Gestalt der Orthodoxen Kirche auch noch so sehr bekämpft haben. Aus derselben Wurzel stammt auch das Empfinden einer tiefen Kluft zwischen Seele und Leib, das immer wieder deutlich hervortritt. Daraus entspringt nun aber reicht eine Abwertung des Körperlichen: Im Ineinander der Gegensätze hat jeder der beiden Pole sein Recht, ja man ist versucht zu sagen: gerade weil sie zwei sind, können sie eins werden. Dieses Getrenntsein und Ineinander lässt sich nicht treffender illustrieren als mit einem Satz, mit dem Odysseus über seine Liehe zu Kalypso spricht: Zum ersten Male schmeckte ich die Lust des Leibs, als wär sie Geist. (2,86)


Gott
Drei Themen sind es vor allem. um die das Denken immer wieder kreist: Freiheit, Tod und Gott. Der Zweifel an Gott hat seinen Anfang in der Verzweiflung:
Zum Himmel hob ich meine Hände, und ich schrie zu ihm um Hilfe! / Doch der schickt mit Gelächter mir den weissen Blitz aufs Haupt herab.(1,1043f.) Wenn immer Götter erscheinen, sind es fette, habgierige. neidische und bestechliche Wesen, denn auch die Götter handeln heute, verkaufen teuer ihre Gunst. (5,587) So wird auch die Schöpfungsgeschichte neu erzählt: Nach der Erschaffung der Welt hätten alle Lebewesen Gott knechtisch verehrt, einzig der Mensch habe sich voll Stolz erhoben und Gott das Wort entgegengeschleudert: Ich beug mich nicht, ich ehr dich nicht, und deine Welt gefällt mir nicht!. (8,680)worauf « der Alte» aus Zorn in Ohnmacht gefallen sei. Wenn der alte Odysseus erfährt. dass er nun von den Kretern als Gott verehrt wird, kann er nur resigniert bemerken: Zum Gott kam ich herunter hier . . .(21,511)

Zu dieser deutlichen Ablehnung aller fixierten Gottesvorstellungen kommen immer wieder neue Anläufe, das Gemeinte positiv zu umschreiben. Einen Versuch unternimmt Odysseus im dritten Gesang:
Ein Lied ist Gott in blauer Luft. und niemand weiss, von wannen er
herannaht, und was seines Sangs und seiner Worte wahrer Sinn:
doch wie das Vogelweibchen lauscht, so lauscht das Herz dem Lied und zittert.
(3,477ff.)
Doch diesen Versuch widerruft er im elften Gesang (1317ff.) (Der Gott ist nicht ein Lied, das durch die Lüfte zieht und ferne schwindet, / er ist vielmehr ein warmer Schlund, voll Fleisch und voller rotem Blut; / er ruft uns, spricht rein schrecklich Wort, und weiter stürmt er, uns voran...) und wieder anders im 15. Gesang: Mein Gott ist Erde und ist Feuer, Wasser ist er, Blut und Schweiss! I Er ist kein ewiger Gedanke, noch ein Vogel in der Luft: I Fleisch ist er, sterbliches... woher er kommt, wohin er geht, der Gott, das weiss er selber nicht! (916ff.)

Dieser Gott, nach dem das Denken in stets neuen Anläufen zielt, gleicht dem «werdenden Gott» Bergsons, ohne ganz mit ihm identisch zu sein. Ein Wort, das Odysseus noch vor seinem Auszug aus Ithaka spricht, muss auch für den interpretierenden Leser oberstes Gesetz sein: doch sieh, so oft ich Gott zu messen unternahm—ich fand kein Mass (1,829)


Tod
Odysseus hat das, was Kazantzakis den «kretischen Blick nannte. Ihm gilt als Hauptgebot, dass wir muterfüllt und graden Augs dem Herrscher Tod entgegenwandern (12,1261). Der Tod wird nicht verdrängt, gleich einem schwarzen Banner (18,904) trägt ihn Odysseus auf seiner langen Wanderung voran; er wird aber auch nicht zur blossen Zwischenstufe auf dem Weg zu einer Unsterblichkeit. Im Gegenteil: Er bedeutet die endgültige Auflösung, die Rückkehr zur Mutter Erde, und nur wer dies erkannt hat, vermag wirklich zu leben: Salz ist der Tod, und schmackhaft Freund, sehr schmackhaft macht er uns das Leben! (18,912) So ist der Tod allgegenwärtig in diesem Gedicht, sei es, dass Odysseus vor einer kühnen Tat mit ihm spielt und ihn wie einen welkgewordnen Apfel (10,736) in die Luft wirft und wieder auffängt, sei es, dass er als Gestalt auftritt. Typisch dafür ist eine Szene im 19. Gesang: Odysseus begegnet dem Tod als einem Reiter, der ihn im Schatten sitzend erwartet. Er weist dem Mörder den Weg zum Meer, den er gehen will, und spürt dann plötzlich seine Hand auf seiner Schulter. Da dreht er sich lächelnd um:
„He, Nachbar, eilig hast du es, fragst nicht nach meinem eignen Wunsch.
Leck dir nicht schon die Lippen, Tod, ein starker Knochen bin ich noch:
bald werf ich dir ihn hin, doch wisse: noch benötige ich ihn—
die Seele hält den Körper fest, an ihrem Busen, bis er fault (... )
Bleib sieben Schritte hinter mir, ich werde dich schon rufen, Tod!“
Die sieben Schritte messend blieb, gebückt, der Tod ihm auf den Fersen.
.(19,208ff.)

So wandert Odysseus mit dem Tod, bis sie schliesslich freundschaftlich zusammen in dem Kahn hocken. den Odysseus für seine letzte Reise gezimmert hat: So wird auch am Ende sein Sterben, zu dem er alle seine verstreuten Freunde ruft, zu einer triumphalen Feier seines Lebens. Der alte Odysseus, der «Todbereite», erscheint daher oft, trotz all seiner Heftigkeit, als ein Gelassener:
Des Festes Ende ist gekommen, die Belustigung vorüber,
der Wind schrieb im Vorüberwehen meinen Namen in den Sand
(21,1344)

Freiheit
Diese Gelassenheit hat ihren Grund in der Freiheit. Diese bedeutet zunächst: Freisein von allen vorgegebenen Bindungen. So verlässt Odysseus im Morgengrauen seine Gattin, ohne sich auch nur nach ihr umzuwenden, so sehnt sich Helena danach, von ihrem langweiligen Gatten fort geraubt zu werden. Doch wird diese Freiheit nicht nur individuell gesehen: mit unverhohlener Freude sieht Odysseus in Sparta, Kreta und Ägypten, wie die unterjochten Völker aufbegehren, und wird selbst zum Revolutionär. In der Gestalt der schönen Jüdin Rala (einer Anti-Helena sozusagen, die um der Freiheit ihres Volkes willen auf die Liebe verzichtet) hat Kazantzakis diesem Freiheitsideal ein Bild geschaffen, das in seiner idealisierten Schönheit und in seinem flammenden Pathos an Delacroix' „La Grece expirant sur les ruines de Missolonghi“ erinnert. Eine noch höhere Stufe der Freiheit ergibt sich aus Kazantzakis' radikaler Verneinung aller Religion und aus der Anerkennung der Endgültigkeit des Todes: er ist ohne Furcht und Hoffnung frei (21,512), denn: Freisein heisst kämpfen auf der Erde ohne jeden Hoffnungsstrahl (21,1351). Erlösung gibt es daher nur als freie Selbsterlösung: Ich bin der Löser, und Erlöser gibt es nicht auf dieser Welt! (18,505). Dies ist die seltsame Kraft, mit der Odysseus die Menschen in seinen Bann zieht und sie alle überragt: Hoch auf der Freiheit letztem Gipfel stehet aufrecht das Gelächter. (18,511). Doch auch dabei bleibt Kazantzakis nicht stehen. Wenn er vorn sterbenden Odysseus berichtet, da sei dieser schliesslich vom letzten Käfige, von seiner eignen Freiheit frei (24,1339) geworden, so kann dies nur bedeuten: Freiheit, verstanden als absolute Nichtbestimmtheit, ist notwendigerweise dann auf ihrer höchsten Stufe, wenn sie sich selbst aufhebt.


Einheit des Seins
Denselben Weg der Steigerung eines Begriffs vom Vordergründigen zum Umfassenden und schliesslich zu seiner Aufhebung geht Kazantzakis auch bei einer anderen Vorstellung, die leitmotivisch das Gedicht durchzieht: bei der Vorstellung der Einheit des Seins. Wenn Odysseus Sympathie empfindet für die Massen, die nach Freiheit dürsten, so ist dies nur eine Seite einer umfassenderen Grundhaltung: In meinem Geiste stift ich Brände Metzeleien, und miteins /entwaffnet eines jungen grünen Feigenblattes Duft mein Herz! (7.1030) Worüber er sich hier noch wundert, das wird ihm später, bei seinem einsamen Gang auf den Berg, deutlich. Hier begrüsst er in mystischer Versenkung seine Ahnen: Tantalos, Herakles und Prometheus zuerst, doch dann auch den Wasserbüffel, den Affen und schliesslich alle Tiere. Er breitet seine Arme aus und ruft: Seid willkommen, meine Brüder! (14,774, man denkt, mit Kazantzakis, an Franz von Assisi) und fühlt schliesslich: Die Vögel, Früchte und das Wasser sind Odysseus nun geworden. (14,1091) Doch auch dies ist nur eine Stufe, die es zu überwinden gilt. Die schöne Margaro, Asketin mit gelöstem Gürtel, hat dieses Einssein in der Liebe erfahren: Nun fühl ich endlich, mein Geliebter, dass wir beide eins geworden! Da gibt ihr Odysseus seine schwerste und letzte Erkenntnis: Auch dieses Eins, oh Margaro, auch dieses Eins ist nur ein Hauch! (18,1166ff.) Margaro erschrickt. Wie aber Odysseus alle Gefährten zu sich ruft, um mit ihnen gemeinsam seine triumphale Fahrt in den Tod anzutreten, da kommt auch sie:
In meinem Arm, wie du befahlst, sind alle Dinge einsgeworden;
und dieses Eins, wie hab ichs, Gott, voll nimmersatter Lust geküsst,
weil ich es wusste' das Geheimnis: dieses Eins ist auch nur Luft.
(24,380ff.)

***

Siebenmal hat Nikos Kazantzakis sein Werk umgeschrieben, ehe er es veröffentlichte — da reicht ein Artikel bestenfalls dazu, einige Schwerpunkte aufzuzeigen. Vielfältig sind seine inneren Bezüge und stets neu seine Aspekte. Am besten wohl lässt es sich mit den Worten charakterisieren, die Helena einmal zu Odysseus spricht:
Noch niemals sah ich einen Herrscher, der sosehr dem Meere gleicht,
mit seinen vielen, bittren Wellen und dem Sand der Küstensäume,
wie dich, mein Freund, mit deiner Seele unruhigflutendem Gewoge.
(3,1253ff.)
Karl Kerenyi hat vor Jahren schon (in «Streifzüge eines Hellenisten») dem deutschsprachigen Leser etwas von den Hintergründen dieses Werks erschlossen; es bleibt zu hoffen, dass nun die deutsche Übersetzung zu einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem Werk führt.

In „Rechenschaft vor El Greco“ berichtet Kazantzakis, Odysseus sei ihm erschienen. „ &Mac226;Du bist erlöst von der Erlösung’, sagte er, und seine Stimme war herb, heiser von den Meereswinden, &Mac226;du bist erlöst von der Erlösung, das ist die höchste Leistung des Menschen; dein Dienst bei der Hoffnung und der Furcht ist zu Ende, du beugtest dich über den Abgrund und sahst das umgekehrte Abbild der Welt, ohne zu erschrecken...’ — &Mac226;Die Reise war gut’, sagte ich und berührte ergriffen das Knie meines Gefährten, — &Mac226;Jetzt sind wir angelangt.’— ,Sind wir angelangt?' fragte er erstaunt. ,Was heisst angelangt?’— ,Ich weiss, es heisst: Jetzt brechen wir auf.’“

(Der Landbote, 5.4.1974)


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