Heinz Schmitz

Der Sultan und die Troianer

Mehmed II, gemalt von Gentile Bellini (1429-1507)

Am 27. Mai 1453 war es deutlich geworden: die Barbaren werden kommen. Der einundzwanzigjährige Sultan Mehmed war durch das Lager seiner Truppen geritten und schwor ihnen bei Allah und Seinem Propheten und den viertausend Propheten und den Seelen seines Vaters und seiner Kinder, sie dürften Konstantinopel nach der Erstürmung drei Tage lang ungehindert plündern, wie es der Brauch verlangte. Und während in der Stadt die Angst für eine Weile die Zänkereien der Venezianer, Genuesen und Griechen verstummen liess, hörte man von draussen her die aufpeitschende Musik der Trommeln und Pfeifen, die die Türken beim Fackelschein zur Arbeit antrieb, und immer wieder die Rufe „La ilaha illa 'llahu wa-Muhammad rasulu 'llah“ – „Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Mohammed ist sein Prophet“. Hatte nicht Allah selbst ihnen befohlen: „Wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt“ und denen, die auf Seinem Weg getötet würden, das Paradies verheissen (Koran 47,4ff.)? „O grosses Unglück!“ klagt der Dichter der Halosis Konstantinoupoleos nachdem die heilige Stadt der Romäer und mit ihr eine ganze Welt untergegangen war: ein '“wilder drakos“ (v. 477) hatte sich in Anatolien erhoben, ein „toller Hund“ (917); er wird nicht ruhen, ruft der Dichter den Christen im Westen zu, sondern euer Fleisch fressen und euer Blut trinken (446), oder kurz: „Die ganze Welt begehrt er, er will sie essen“ (492).

Andere schickten sich drein. Da es unvermeidlich war, dass man mit den Türken leben müsse, liessen sie sich mit dem „tollen Hund“ ein und fanden manches, was das wohlgeordnete Weltbild mit seinen scharfen Konturen zwischen Kultur und Barbarei verwischen konnte. Einer dieser Realisten, die erhebende Gefühle für ein gutes Ansehen beim neuen Machthaber eintauschten, war Kritobulos von Imbros, zweifellos Verräter geheissen von denen, die am Alten hingen: er widmete sein Geschichtswerk „Dem grössten Kaiser Mehmed, König der Könige (...) Herr über Land und Meer nach Gottes Willen“. Das mahnt uns zur Vorsicht, wenn wir nun eine Episode aus diesem Werk näher betrachten wollen, die er als einziger zeitgenössischer Autor von Mehmed berichtet.

Mehmed sei, berichtet Kritoboulos (4,11,5f.) auf dem Zug von Byzanz nach Lesbos (1462) in Ilion vorbeigekommen. Er habe die Ruinen des alten Troia besichtigt und auch die Gräber Achills, des Aias und der anderen Heroen besucht „und er pries diese glückselig wegen ihres Ruhms und ihrer Taten und weil sie Homer als Lobredner bekommen hätten“.- Das stammt natürlich aus der Alexanderlegende und scheint uns so wenig zu einem Osmanen - Sultan zu passen, dass wir es gern bei dieser Feststellung bewenden liessen. Doch muss man auf jeden Fall mit der Möglichkeit rechnen, dass der junge Eroberer von Alexander (dem er in seinem Charakter nicht unähnlich war) gehört hatte und sich diesen zum Vorbild nahm, wie Kritobulos auch an anderer Stelle (1, 5,1) berichtet.

Da hilft uns das gewiss nicht türkenfreundliche Chronicon maius des 'Sphrantzes' weiter: Mehmed habe stets gerne die Biographien Alexanders von Makedonien, Oktavians und anderer gelesen, weil er Mittel und Wege gesucht habe, diese alle zu übertreffen (p. 96f. ed. Papadopulos). Dies bestätigt uns der Bericht des Iacopo de' Languschi, eines einflussreichen Arztes im Dienste Mehmeds: „Täglich lässt er sich römische und andere Geschichtswerke vorlesen von einem Begleiter namens Ciriaco d' Ancona und von einem andern Italiener. Von diesen lässt er sich Laertius, Herodot, Livius, Quintus Curtius vortragen, die Chroniken der Päpste, der Könige von Frankreich, der Langobarden. Er drückt sich in drei Sprachen aus, dem Türkischen, dem Griechischen und dem Slavischen“. Der Sultan konnte also Griechisch - da muss er beim Lesen der Biographien auch auf eine antike Ausformung der Alexanderlegende gestossen sein. Der Arrian, den man in seiner Bibliothek im Stambuler Saraj fand (Babinger S. 546), wurde wohl auch gelesen.

Offen bleibe die Frage, was für ein Ilion Mehmed besucht haben kann, als er in jener Gegend vorbeizog - der Bericht erwies sich in einem tieferen Sinne als wahr, als dass dies noch bedeutsam wäre. Kritobulos berichtet in der Fortsetzung von einer erstaunlichen Rede, die Mehmed in Troia gehalten habe: er sei von Gott zum Rächer für diese Stadt bestimmt worden und habe nun ihre alten Feinde besiegt. „Griechen waren es nämlich, Makedonier, Thessalier und Peloponnesier, die diese Stadt einst zerstört haben, deren Nachkommen nach so vielen Jahren jetzt von mir bestraft wurden, wegen ihrer Hybris (ihrem frevelhaften Hochmut), die sie damals und auch oftmals später uns Asiaten gegenüber gezeigt haben“ (4, 11, 6).

Das fügt sich an die politische Verwendung des Mythos, wie wir sie aus Herodot kennen: weil die Phoinikier Io aus Argos raubten, raubten die Griechen Europa aus Tyros. Dann holten sie sich Medea aus Kolchis, wofür Paris Helena entführte; seit dann darauf die Griechen mit einem Heer nach Troia zogen, herrscht Feindschaft zwischen 0st und West (1,1-4). Nachdem die Römer in der Folgezeit die Aeneas-Sage selten als antigriechisches Propagandamittel gebrauchten, erscheint nun plötzlich ein Sultan, der sich mit den Troianern identifiziert („uns Asiaten gegenüber“), und wendet die Sage gegen die Romäer (So nannten sich die Leute, nicht „Hellenen“; ein „Hellene“ ist noch bis ins 19. Jahrhundert meistens ein „Heide“, oft in Gestalt eines unförmigen Riesen, der in den Wäldern wohnt. Noch heute[1] nennen die Griechen in Istanbul ihre Sprache Romaïká).Doch wer sind nun eigentlich die „echteren“ Troianer: die kämpferischen Asianoi oder die überzivilisierten Rhomaioi, deren Reich letztlich - trotz byzantinischem Selbstbewusstsein dem Westen gegenüber - auf Aeneas zurückgeführt wird? „Troianer“ steht gegen „Troianer“ - das Paradox zeigt aufs deutlichste die Verwirrung, die eintritt, wenn „historische“ Ansprüche längere Zeit aufrechterhalten werden ...

Die Gleichsetzung der Türken mit den Troianern stammt aus dem Westen, wo unter den Humanisten die Türken häufig als 'Teucri' bezeichnet wurden, was Pius II. zur Klage bewegte (Opera omnia, Basel 1551,394): Video complures aetatis nostrae non auctores aut poetas duntaxat, verum etiam historicos eo errore teneri, ut Teucrorum nomine Turcas appellent, worauf eine historische Richtigstellung folgt, für die einer namens Enea Silvio schliesslich auch kompetent war. Die Gleichung „Teucri = Türken“ verdankt ihren Ursprung wohl einfach der humanistischen Manier, antike Namen für moderne einzusetzen; war sie einmal vorhanden, lag die Interpretation des Falls von Konstantinopel als Vergeltung für Troia geradezu auf der Hand. Sie muss ziemlich verbreitet gewesen sein und wurde auch in Griechenland bekannt. Laonikos Chalkondyles schliesst nämlich seinen Bericht über die Eroberung mit der Bemerkung ab, dieses Unglück habe man mit dem Untergang Troias verglichen „und so glaubten die Romaioi, nun sei die Strafe über die Hellenen gekommen für das einstige Unglück in Troia“ (p.403 Bekker).

Aber wie soll denn Mehmed auf den Gedanken gekommen sein, sich als Rächer Troias zu bezeichnen? Der Sultan, der sich trotz des muslimischen Bilderverbots von Gentile Bellini porträtieren liess, hatte gerne italienische Humanisten um sich. Einer von ihnen war Ciriaco d' Ancona, den wir bereits durch Iacopos Bericht kennenlernten: nicht nur als Archäologe "the Schliemann of his time" (Sandys), sondern auch einer der ersten Homerkenner unter den Westeuropäern. Er zog 1453 mit Mehmed in Konstantinopel ein und starb wohl 1455 (also sieben Jahre vor dem Zug nach Lesbos). Die Annahme liegt nahe, dass er als erster Mehmed auf seine troianischen „Vorfahren“ aufmerksam gemacht hat. Sicher nachweisen lässt sich das nicht, doch muss es auf jeden Fall ein Humanist aus dem Westen gewesen sein.

Denn die Vorstellung, dass der Sultan seinen Homer lesend im Zelt gesessen habe, während er die Stadt belagerte, wäre naiv. Er liebte die persische Dichtung über alles, doch haben wir keine Nachricht davon, dass er auch die griechische sich habe vorlesen lassen (wie ja auch die griechische Dichtung, im Gegensatz zu Philosophie und Wissenschaft, im Islam überhaupt nicht nachwirkte). Er wollte in erster Linie sein Wissen bereichern, denn Wissen ist Macht: „Geschickt unterrichtete er sich über die Lage Italiens und der Orte, wohin Anchises und Aeneas und Antenor gelangten, wo der Sitz des Papstes ist, der des Kaisers, wie viele Königreiche es in Europa gibt. Davon besitzt er eine Karte mit den Reichen und Provinzen. Nichts erfährt er mit grösserem Beifall als die Lage der Welt und die Kenntnis militärischer Dinge, er brennt von Begierde zu herrschen, ein schlauer Erkunder der Verhältnisse“ (Iacopo de' Languschi).

War also sein „Humanismus“ nichts anderes als ein Ausdruck seiner Herrschsucht, vergleichbar seinem Interesse für westliche Technik, welches darin gipfelte, dass er sich die damals grösste Kanone aller Zeiten (Kaliber ca. 2 m) von einem Europäer bauen liess? - Aber zeigen die Berichte denn nicht einen intensiveren Umgang mit antiken Texten, der über blosse Wissensvermittlung hinausgeht und uns die Nachricht glauben lässt, der Sultan habe später mit Ehrfurcht das eroberte Athen betreten (Kritoboulos 3, 9)? Wir stehen hier wohl einer Erscheinung gegenüber, die sich nicht in die landläufigen Kategorien einordnen lässt.

Für die, welche erschlagen wurden von seinen Horden, war dies freilich ohne Belang, und die Berichte der Überlebenden trugen das Ihre dazu bei, den 29. Mai 1453 als den Tag in Erinnerung zu behalten, an dem die Hüterin der antiken Kultur von der Barbarei überwältigt wurde. Sie prägten das Bild jener Tage, wie es noch heute im allgemeinen Bewusstsein der Gebildeten Geltung hat - sie konnten nichts wissen vom Paradox der Geschichte, die gerade im vermeintlichen Totengräber hellenischer Kultur etwas vom antiken Erbe weiterleben liess.

Bibliographische Anmerkung


Da das Thema anscheinend in einem toten Winkel der gängigen Humanismusforschung liegt, musste Verschiedenes zusammengetragen werden. Grundlegend ist einerseits S. Runciman, Die Eroberung von Konstantinopel 1453, dt. 1966, andrerseits F. Babinger, Mehmed der Eroberer und seine Zeit, 2.Aufl 1959 (eine grosse kritische Biographie, doch ist leider der versprochene 2. Bd. mit den Quellennachweisen immer noch nicht erschienen). Zu Ciriaco d' Ancona: E.W. Bodnar, Cyriacus of Ancona and Athens (Coll.Latomus 43), 1960; J.E. Sandys, Hist. of Class. Scholarship II, 1908, 39f. (mit falschem Todesjahr 1450); G. Finsler, Homer i. d. Neuzeit, 1912, 23f. Zu den einzelnen Autoren s. G. Moravcsik, Byzantinoturcica I, 2.Aufl. 1958. Kritobulos ist zitiert nach Müller, FHG V, 52-161 (mit guten Anmerkungen). Der Bericht des Iacopo de' Languschi, der sich in der Cronaca des Zorzo Dolfin erhalten hat, findet sich in deutscher Übersetzung bei Babinger S. 115 (danach die Zitate), italienisch bei Bodnar S. 66. - Für Anregungen und Hinweise sei Fritz Graf und Lorenz Stäger herzlich gedankt.

(1) Der Aufsatz wurde 1970 geschrieben. Ob das Gesagte auch für den Beginn des 3. Jahrtausends nach Chr. zutrifft, entzieht sich der Kenntnis des Autors. (zurück)

(Zuerst erschienen in: Sodalitas Florhofiana. Festgabe für Professor Heinz Haffter zum fünfundsechzigsten Geburtstag am 1. Juni 1970, Zürich 1970, 135ff. Die Zitate aus griechischen Autoren sind in der vorliegenden Fassung übersetzt und der Text dem entsprechend leicht angepasst. Die Bibliographie wurde nicht nachgeführt).


Text Kritoboulos 4,11,6:


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(Adresse des Autors: heinz.schmitz@mus.ch)